„Wir brauchen Russland!“ so das Credo des renommierten Experten für Außen- und Sicherheitspolitik Ulrich Weisser. Auch der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder kommt zur Schlussfolgerung: „dass nur eine strategische Bindung zwischen dem Europa der Union und Russland uns befähigt, ökonomisch, politisch, kulturell standzuhalten gegenüber konkurrierenden Mächten.

Doch inwieweit brauchen sich Europa und Russland wirklich? Wie stark ist deren Abhängigkeit voneinander und welche Risiken und Chancen birgt die zukünftige Entwicklung?

 

 

Nach der Auflösung der Sowjetunion vor fast sechzehn Jahren ist Russland, der größte Nachfolgestaat des Imperiums, zum strategischen Partner des Westens geworden. Die Russische Föderation, so der offizielle Staatsname, befand sich nach dem Zerfall der einstigen Supermacht in einer wirtschaftlichen und politischen Krise, die sich erst mit dem Amtsantritt Wladimir Putins im Jahr 2000 besserte. Russland hat seinen Platz auf der Weltbühne noch nicht gefunden, die Identitätssuche schwankt zwischen Großmachtrhetorik und Westorientierung. Fakt ist, Russland möchte als eigenständiger internationaler Akteur in einer von ihm angestrebten multipolaren Welt respektiert werden. Der Ausgangspunkt der neuen russischen Macht basiert auf einem gigantischen Rohstoffvorkommen, insbesondere Erdgas und Erdöl. Das einst vom Westen abgeschriebene Land versucht sich auf der Weltkarte neu zu positionieren und weitet seinen Einfluss systematisch aus.

 

Rückkehr Russlands zur Großmacht

Russland hat seinen Selbstfindungsprozess noch nicht abgeschlossen, doch die Weichen sind klar gestellt: Russland verfolgt, als mächtigster Nachfolgestaat der UdSSR, das Ziel, zu alter Größe zurückzufinden – als eigenständiger internationaler Akteur. Grundlage des außenpolitischen Handelns Russlands ist die Konzeption einer multipolaren Welt. Diese Strategie wurde von den Chinesen Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts entwickelt und maßgeblich von Außenminister Jewgeni Primakow unter Jelzin geprägt, später von Putin fortgesetzt. Kern der Konzeption ist, dass nicht ein einziges Machtzentrum (Unipolares Modell) die Entscheidungen trifft, sondern von mehreren verschiedenen Machtzentren. Durch Diversifizierung seiner Außenpolitik versuchte Moskau sich als Knotenpunkt des europäischen- und asiatischen Kontinents hervorzuheben und schloss Verträge in beide Richtungen, ohne seine Souveränität als eigenständiger Staat zu verlieren. Vielmehr sucht Russland unter Putin als autonome Großmacht ein konstruktives Verhältnis gleichzeitig zu beiden Partnern. Erste Züge einer eurasischen Politik waren schon Ende der zweiten Amtsperiode Jelzins, mit der Gründung der Shanghai Five-Gruppe, spürbar. Putin setzte die Allianz fort und bildete die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Die SOZ bildet einen Zusammenschluss zentralasiatischer Länder (Volksrepublik China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan) für eine gemeinsame ökonomische und politische Verflechtung. Die SOZ könnte ein neues energie- und sicherheitspolitisches Machtzentrum werden, das als Gegengewicht zur USA darstellen soll.

Auch die Beziehung zu Europa änderte sich drastisch. Von der einstigen Euphorie über der Demokratisierung und der reinen Westorientierung Russlands sowie von der geopolitischen Vorstellung, das Russland der Europäischen Union betritt, nahm man noch in der Ära Jelzin Abstand. Stattdessen rückten vermehrt Großmachtrhetorik und nationale Interessen in den Vordergrund. Im Oktober 1999, als Putin noch Premierminister war, wurden die außenpolitischen Beziehungen der EU und Russland im Dokument der „Mittelfristigen Strategie Russlands zur Entwicklung der Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Europäischen Union 2000–2010“ festgelegt. Hier heißt es: „in der behandelten Periode wird die Partnerschaft zwischen Russland und der Europäischen Union auf Vertragsbeziehung basieren, das heißt ein offiziell erklärtes Ziel eines Beitrittes oder einer Assoziation Russlands mit der EU wird es nicht geben. Als eine Weltmacht, die sich auf zwei Kontinente erstreckt, sollte sich Russland die Freiheit bewahren, seine Innen- und Außenpolitik ebenso zu bestimmen und zu implementieren wie seinen Status und seine Vorteile eines euroasiatischen Staates und des größten GUS-Landes sowie die Unabhängigkeit seiner Position und seiner Aktivität in internationalen Organisationen.“ Mit diesem Dokument machte Moskau erstmals den Großmachtstatus Russlands geltend. Dmitrij Trenin stellvertretender Direktor des Moscow Carnegie Center sieht die Beziehungen Russlands mit dem Westen „nicht als ideologische oder wertebezogene Maxime der Politik, sondern als externes Reservoir, das der wirtschaftlichen Modernisierung des Landes dienlich sein kann.“

Russlands neue Macht beruht auf den Rohstoffen – vor allem auf Erdgas. Als Energiegroßmacht ist sich Russland seiner Stärke als zweitgrößter Förderer im Erdölsektor und Hauptförderer im Erdgassektor weltweit bewusst. Die Ukraine war das erste Land, das diese Macht im Dezember 2005 direkt zu spüren bekommen hat. Der staatliche Energiekonzern hob die Preise auf mehr als das Doppelte an. In Westeuropa ist es zu Lieferengpässen gekommen, da die Ukraine ein Transitland für die Pipelines nach Westen ist.

 

 

Ausweitung des Einflusses Russlands auf die GUS-Staaten

Ein weiterer wichtiger Punkt der russischen Außenpolitik ist die Ausweitung des Einflusses auf die ehemalige Hemisphäre der UdSSR. Zwar sind die einstigen Republiken des Warschauer Pakts souveräne Staaten, doch bedingt durch die geographische Nähe und der damit verbundenen wirtschaftlichen Verflechtung sieht Moskau diese als „Staaten von besonderem Interesse.“ Gerade dieses Interesse steht im drastischen Konflikt mit dem strategischen Interesse Europas und den USA. Bei der Orangefarbenen Revolution in der Ukraine kamen die gegensätzlichen Meinungen offen zum Ausdruck.

Die Annäherung der Ukraine an den Westen und die Vorstellung einer möglichen Mitgliedschaft in der Europäischen Union stießen im Kremel auf heftige Kritik. Als Reaktion darauf versucht Russland seinen Einfluss systematisch über die Abhängigkeit von Energieimporten auszubauen. So stellte Russland im Januar 2006 vorläufig die Gaslieferungen in die Ukraine ein, als diese die Preiserhöhungen von 50 Euro auf rund 184 Euro nicht zahlen wollte. Auch Weißrussland bekam die „Energiewaffe“ Putins im Dezember 2006 zu spüren.

 

Russland braucht Europa

St. Petersburg / Russland

 

Ostpolitik der EU

Im Zeitalter der Globalisierung ist der Osten für Europa von besonderem strategischem Interesse. Vor allem Russland aber auch östliche Nachbarn wie der Ukraine, Moldawien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Weißrussland sowie zentralasiatische Staaten wie Kasachstan, Turkmenistan oder Kirgisistan rücken immer näher in das Blickfeld der EU. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier forderte während seiner EU-Ratspräsidentschaft eine „neue Phase der Ostpolitik der EU.“Das Ziel ist es, Sicherheit, Wohlstand und rechtsstaatliche Verhältnisse zu stärken um nicht auf „Dauer Instabilität zu importieren“. Der Grundgedanke: „Integration im Rahmen von Verflechtungsprozessen zu unterstützen, die sich auch in der EU bewährt haben.“

Der Raketenstreit ist nicht nur ein Problem zwischen den Vereinigten Staaten und der Russischen Föderation – er ist vor allem ein Problem für die künftigen Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union. Eine erfolgreiche Lösung des Konfliktes wird maßgeblich bestimmen, ob die „strategische Partnerschaft“ zwischen Russland und der EU fortgeführt werden kann oder ob sich Russland von der EU isolieren wird. Besteht zwischen Russland und Europa eine gegenseitige Abhängigkeit? Beide brauchen sie für eine gemeinsame Lösung, welche die Forderungen Europas und Russland beinhaltet. Jedoch besteht keine direkte Abhängigkeit zwischen den beiden Akteuren. Europa und Russland können ihre außenpolitischen Beziehungen selbst bestimmen, ohne drastische Konsequenzen des Anderen fürchten zu müssen. Zwar führen Kritiker an, dass Europa insbesondere von russischen Gas- und Öllieferungen Abhängigkeit ist, jedoch sprechen wir in diesem Konflikt von einer gegenseitigen und gleichberechtigten Abhängigkeit zwischen Moskau und Brüssel. Russland transferiert 80 Prozent seiner Gasexporte nach Europa. Dadurch ist Russlands Wirtschaft von europäischen Abnehmern abhängig. Aus diesem Grunde behaupten einige Experten, Russland sei genau so abhängig von der EU, wie die EU von Russland. Zudem ist die russische Wirtschaft auf Investitionsgüter aus Europa angewiesen. Die veralteten Industrieanlagen sowie die Infrastruktur im Energiesektor bedürfen enormen Investitionen, die Russland alleine nicht schultern kann. China und Indien benötigen selbst einen immensen Bedarf an ausländischen Investitionen und kommen daher nicht in Frage.

Die USA hegen – aufgrund der negativen gemeinsamen Geschichte – einen gewissen Vorbehalt gegenüber der Russischen Föderation. Russland ist somit auf die Investitionsbereitschaft europäischer Unternehmen angewiesen. Auch Europa braucht Russland, um seinen immensen Energiehunger zu stillen. Die europäischen Staaten importieren fast 27 Prozent ihrer Energieerzeugnisse von Russland. Einige Länder wie Deutschland oder Italien importieren sogar weit über 40 Prozent. Diese beidseitige wirtschaftliche Abhängigkeit sollte nicht als Bedrohung verstanden werden, sondern vielmehr Basis gemeinsamer Interessen, die beide Akteure näher zusammenführen. Zudem favorisieren beide Seiten in diesem Konflikt ähnliche Lösungsansätze. Der Großteil der europäischen Staat- und Regierungschefs drängt auf eine gemeinsame Lösung zusammen mit der Russischen Föderation im NATO-Russland-Rat. Sie teilen die Auffassung der russischen Regierung, dass ein Raketenabwehrsystem in Osteuropa das strategische Gleichgewicht in der Welt auseinander bringen würde. Beide Seiten brauchen einander, wenn sie den Streit nach ihren Vorstellungen lösen wollen.

Ohne ein starkes Europa, das sich den amerikanischen Plänen entgegenstellt und den drohenden Alleingang Polen und Tschechiens verhindert, wird sich Russland weiter von der EU und dem Westen entfernen und sich neue Partner suchen. Ein Raketenabwehrsystem ohne russische Beteiligung wird im Kremel nicht nur als Bedrohung wahrgenommen, sondern auch als ein weiterer Akt der Demütigung für das Selbstbild des Landes. Die Europäische Union sollte sich nicht die Chance nehmen lassen, der Russischen Föderation die Hand zu reichen und die strategische Partnerschaft zu einer strategischen Freundschaft zu führen.

 

Zukunftsperspektiven

Wie werden sich die Beziehung zwischen der Europäische Union und Russland entwickeln? Wird die strategische Partnerschaft fortgesetzt oder wird sich Russland weiter vom Westen isolieren und sich neue Partner suchen? Die nachfolgenden zwei Punkte stellen mögliche Szenarien dar, die sich aus Raketenstreit entwickeln könnten.

 

Risiko Raketenschild – Zuspitzung zur internationalen Krise?

Die Bush-Administration wird auf die Stationierung des Raketenabwehrsystems in Europa nicht verzichten. Polen und Tschechien bekommen von den USA finanzielle Unterstützung sowie militärische Sicherheit. Europa wird sich den Weisungen seines stärksten und wichtigsten Partners beugen und die Pläne befürworten. Wie werden sich die Beziehungen der beteiligen Akteure verändern? Zunächst werden sie den gesamten Ton der russischen Beziehungen mit dem Westen wohl kaum grundsätzlich beeinflussen. Zwar wird Russland versuchen, gegenüber dem Westen Stärke zu zeigen, doch es ist in seiner Entwicklungsphase hin zur Großmacht viel zu sehr von den wirtschaftlichen Beziehungen abhängig, als dass es sich ökonomisch und politisch vom Westen isolieren kann. Aber Russland wird diesen „Denkzettel“ lange in Erinnerung behalten. Moskau wird Stück für Stück die Beziehungen mit dem Westen abschwächen. Insbesondere im Energiesektor wird sich Russland neue Handelspartner suchen. Vor allem aufstrebende Mächte wie China und Indien werden diese Entwicklung begrüßen und von russischen Gas- und Ölfeldern profitieren. Russland wird die Beziehung mit China weiter vertiefen und innerhalb der SOZ einen Gegenpol zur Supermacht Amerika und dem Westen aufbauen. Anders als in Europa braucht sich Putin dort keine ständige Kritik an Demokratiedefiziten anzuhören.

Zudem ist sich Russland seiner Position als Energiegroßmacht bewusst. Die Parameter der Weltpolitik haben sich grundsätzlich verschoben. Heutzutage ist es nicht mehr ausreichend, seine Vormachtstellung alleine auf militärische Aspekte zu begründen. Wirtschaft und Energieressourcen werden die Faktoren sein, die maßgeblich über den Status eines Landes in der Weltordnung entscheiden werden. Deshalb wird Russland weiter versuchen, den Einfluss auf Länder zu vergrößern, die von russischen Öl- und Gasimporten abhängig sind. Auch im Bereich der internationalen Sicherheit wird sich Russland weiter vom Westen entfernen. In Konflikten wie der aktuelle Streit über die Unabhängigkeit des Kosovos wird Russland weiterhin seine Macht als Mitglied des Weltsicherheitsrates ausspielen und zu wenigen Kompromissen bereit sein. Es wird zwar zu keinen neuen „Eisernen Vorhang“ kommen, jedoch wird ein amerikanisches Raketenabwehrsystem inmitten Europas die Beziehung zwischen der EU und Russland stark belasten.

 

Strategische Partnerschaft – Wegweiser aus der Krise?

Charles de Gaulle hat anlässlich einer Pressekonferenz am 30 Juni 1955 gesagt: „Zwischen Staaten gibt es keine Freundschaft sondern nur Interessen.“ Doch gerade die Basis gemeinsamer Interessen galt als Geburtsstunde der Europäischen Union, als 1951 die Montanunion in Paris gegründet wurde. Und auch die Beziehung der EU mit Russland ist geprägt von gegenseitigem Interesse. Russland und Europa sehen sich beide als wichtige Handelspartner. Gerade dieses Interesse sollte als Basis für eine gemeinsame Freundschaft verstanden werden. Erste Ansätze könnten ein Zusammenschluss der Handelsräume sein oder die Bildung einer Energieallianz. Dazu sollte Europa den Vorschlag Putins, den er im September 2001 unterbreitet hat, wieder aufgreifen, als dieser eine Verschmelzung der Rohstoffpotenziale Sibiriens mit dem technologisch höher entwickelten EU-Raum anbot. Über diese ökonomische Verflechtung beider Akteure erfolgt automatisch ein kultureller und sozialer Austausch. Das gegenseitige gewonnene Vertrauen und die gemeinsamen Interessen würden für beide Partner von großem Nutzen sein. Deshalb sollte sich Europa von der Dominanz der USA lösen und ein Raketenschild ohne russische Beteilung in Osteuropa ablehnen, solange

  • keine realistische Bedrohung erkennbar ist,
  • die Einsatzfähigkeit eines solchen Systems bestenfalls hypothetisch gegeben ist und
  • die EU nicht alle Möglichkeiten des Dialogs ausgeschöpft hat.

 

Dazu ist es aber nötig, dass die EU geschlossen auftritt und eine gemeinsame Außenpolitik verfolgt. Dennoch gilt es als fraglich, inwieweit sich Russland in die Europäische Union integrieren möchte. Die derzeitige Politik Putins lässt nur den Schluss zu, dass sich Russland als souveräne Großmacht versteht, welche die EU mehr als Wirtschaftspartner betrachtet, als einen Verbündeten mit gemeinsamer Ideologie. Trotz der Trennlinie eines unterschiedlichen Wertesystems und die Auffassung von Demokratie und Menschenrechte, ist der einzige Weg einer Annäherung beider Akteure, über eine ökonomische Verfechtung, innerhalb einer strategischen Partnerschaft.

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